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Konsensuale Herrschaft

Konsensuale Herrschaft bezeichnet in der Geschichtswissenschaft das Zusammenwirken von König und Fürsten als ein wesentliches Merkmal mittelalterlicher Herrschaft.

Im 19. Jahrhundert ging die Forschung noch von einem Gegensatz von König und Fürsten aus. Die nationalliberalen Historiker konzentrierten sich auf den Anteil der Fürsten am Niedergang der Königsgewalt. In der jüngeren Forschung wird die Teilhabe der Fürsten an der Königsherrschaft als „zum selbstverständlich praktizierten konsensualen Entscheidungsgefüge“ gehörend betrachtet.[1] Königliches Handeln war auf die Zustimmung der betroffenen Großen ausgerichtet. In mündlich-persönlichen Beratungen, oft genug vorbereitet durch vertrauliche Vorerklärungen, wurde die konsensuale Bindung von Herrschaft hergestellt.[2] Versammlungen und Beratungen zur Herstellung von Konsens avancierten dadurch zu einem wichtigen mediävistischen Untersuchungsgegenstand.[3] Bei der Konsensherstellung und Beratung war die Bitte eine häufig eingesetzte Verhaltensform.[4] Hinter der Bitte stand eine massive Forderung, die praktisch den Konsens erzwang. Der Zwang wurde jedoch durch dieses Mittel verschleiert. Angesichts der Bedeutung von Ehre und Prestige gab die Bitte dem Gebetenen die Möglichkeit des großzügigen Gewährens.[5] Durch Rituale wurde konsensuale Herrschaft öffentlich in Szene gesetzt.[6] Dadurch waren alle Teilnehmer stärker an die Konsensentscheidung gebunden, da „ihr Prestige von der Einhaltung des öffentlich Bekundeten abhing“.[7] Diese Herrschaftspraxis wurde von Bernd Schneidmüller als „konsensuale Herrschaft“ bezeichnet.[8] Steffen Patzold erweiterte das Konzept der „konsensualen Herrschaft“ um den Faktor der Konkurrenz der Großen um den Zugang zum „Kreis der tonangebenden Ratgeber des Königs“.[9] Die konsensuale Herrschaftspraxis verlangte nicht den Konsens mit allen Großen, sondern mit jenen, die angesichts ihres Rangs und ihrer Präsenz am Hof tonangebend waren. Die Großen, die sich besonders zurückgesetzt fühlten, bestanden nachdrücklich auf consensus und consilium.[10] Konsensuale Herrschaft umfasst alle Einflussmöglichkeiten über Intrige und Manipulation, Begünstigung und Vorteilsnahme und ist nicht mit steter Harmonie gleichzusetzen.[11] Der Konsens konnte regelrecht erzwungen werden, auch mit Gewalt.[12] Durch die Beratung mit den geistlichen und weltlichen Großen wurde das politische Gewicht von Adel und Kirche gestärkt.[13]

Im 10. und 11. Jahrhundert übernahmen in Notsituationen, in denen etwa die Herrschaft gefährdet war, öffentliche Beratungen eine wichtige Funktion für die konsensuale Herrschaftsordnung. Dadurch wurde aber auch vom Veröffentlichen der im Geheimen gefassten Beschlüsse durch symbolische Kommunikation abgewichen.[14] Im 10. Jahrhundert verstärkte sich deutlich die Verpflichtung des Königs im Konsens mit seinen Getreuen zu entscheiden.[15] Im 11. Jahrhundert geriet die Herrschaft Heinrichs IV. vor allem deshalb in eine Krise, weil er anstehende Probleme mit den falschen Leuten beraten habe. Aus den Fehlern seines Vaters schien Heinrich V. zunächst gelernt zu haben, da er über mehrere Jahre im Konsens mit den Großen herrschte. Nach seiner Kaiserkrönung 1111 wandte er sich aber von einer gemeinsamen Herrschaft mit den Fürsten ab und ging zu früheren autokratischen Herrschaftsformen der Salier über.[16] Nach Amalie Fößel liegt im Konsens der Großen des Reiches „wohl letztlich die eigentliche Legitimation für Regentschaften wie für jegliche Herrschaft im mittelalterlichen Reich begründet“.[17]

Bereits 1979 hat Jürgen Hannig in einer Untersuchung über die merowingisch-karolingische Zeit gezeigt, dass Herrschaft über Freie seit dem 9. Jahrhundert nicht ohne die Herstellung von Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten möglich war.[18] Hannig sah aber die Einbindung der Großen in die Herrschaft des Königs weniger als ein allgemeines Merkmal von mittelalterlicher Königsherrschaft an, sondern als Ausdruck der Herrschaftsideologie in der Karolingerzeit.

Die Ausführungen von Bernd Schneidmüller zur konsensualen Herrschaft wurden von der Mittelalterforschung vielfach aufgegriffen.[19] Stefan Weinfurter ergänzte Schneidmüllers Ausführungen für die Zeit seit dem 11. Jahrhundert um die Idee der Gesamtheit des Reiches. Der König sollte nicht der Herrscher der einzelnen (singulorum), sondern der „Herrscher der Gesamtheit“ (rex universorum) sein. Die Fürsten verstanden sich zusammen mit dem König als universitas der gemeinschaftlich für das Reich Verantwortlichen.[20] Mittelalterliche Herrschaft war somit weniger Befehl und Gehorsam, sondern basierte vorrangig auf Konsensherstellung in Beratungen. Die Einsicht in konsensuale Herrschaftsformen im Mittelalter gilt in der Mediävistik als eine der wichtigsten Erkenntnisse am Anfang des 21. Jahrhunderts.

  1. Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Paul-Joachim Heinig, Sigrid Jahns, Hans-Joachim Schmidt, Rainer Christoph Schwinges, Sabine Wefers (Hrsg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Berlin 2000, S. 53–87, hier: S. 75 (online).
  2. Grundlegend Gerd Althoff: Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 24 (1990), S. 145–167.
  3. Vgl. dazu umfassend nun Gerd Althoff: Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Darmstadt 2016.
  4. Vgl. dazu Claudia Garnier: Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich. Darmstadt 2008.
  5. Gerd Althoff: Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Darmstadt 2016, S. 26.
  6. Hagen Keller: Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches. In: Frühmittelalterliche Studien Bd. 35 (2001), S. 23–59, hier: S. 57.
  7. Das Zitat Gerd Althoff: Colloquium familiäre — colloquium secretum — colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des Frühmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 24 (1990), S. 145–167, hier: 146. Vgl. außerdem Sarah Thieme: „‚So möge alles Volk wissen‘ – Funktionen öffentlicher Beratung im 10. und 11. Jahrhundert.“ In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 46 (2012). S. 157–189, hier: S. 161.
  8. Bernd Schneidmüller: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Paul-Joachim Heinig (Hrsg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Berlin 2000, S. 53–87.
  9. Steffen Patzold: Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 41 (2007), S. 75–103, hier: S. 78.
  10. Steffen Patzold: Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 41 (2007), S. 75–103, hier: S. 88.
  11. Gerd Althoff: Funktionsweisen der Königsherrschaft im Hochmittelalter. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 63 (2012), H. 9/10, S. 536–550, hier: S. 544.
  12. Roman Deutinger: Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit. Ostfildern 2006, S. 254ff.
  13. Gerd Althoff, Hagen Keller: Spätantike bis zum Ende des Mittelalters. Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024. (Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte, 10. völlig neu bearbeitete Auflage), Stuttgart 2008, S. 348, 353.
  14. Vgl. dazu Sarah Thieme: „‚So möge alles Volk wissen‘ – Funktionen öffentlicher Beratung im 10. und 11. Jahrhundert.“ In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 46 (2012), S. 157–189.
  15. Gerd Althoff, Hagen Keller: Spätantike bis zum Ende des Mittelalters. Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen 888–1024. (Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte, 10. völlig neu bearbeitete Auflage), Stuttgart 2008, S. 354. Gerd Althoff: Das ottonische Reich als regnum Francorum? In: Joachim Ehlers (Hrsg.): Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter. Stuttgart 2002, S. 235–261.
  16. Jürgen Dendorfer: Heinrich V. Könige und Große am Ende der Salierzeit. In: Tilman Struve (Hrsg.): Die Salier, das Reich und der Niederrhein. Wien 2008, S. 115–170.
  17. Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich. Herrschaftsausübung, Herrschaftsrechte, Handlungsspielräume. Stuttgart 2000, S. 331 Digitalisat
  18. Jürgen Hannig: Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches. Stuttgart 1982.
  19. Für die Karolingerzeit vgl. Roman Deutinger: Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit. Ostfildern 2006, S. 225–272; zum Hochmittelalter: Jutta Schlick: König, Fürsten und Reich (1056–1159). Herrschaftsverständnis im Wandel. Stuttgart 2001 (Digitalisat); Monika Suchan: Fürstliche Opposition gegen das Königtum im 11. und 12. Jahrhundert als Gestalterin mittelalterlicher Staatlichkeit. In: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 37 (2003), S. 141–165; Jürgen Dendorfer: Fidi milites? Die Staufer und Kaiser Heinrich V. In: Hubertus Seibert, Jürgen Dendorfer (Hrsg.): Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich. Ostfildern 2005, S. 213–265; Jürgen Dendorfer: Autorität auf Gegenseitigkeit – Fürstliche Partizipation im Reich des 13. Jahrhunderts. In: Hubertus Seibert, Werner Bomm, Verena Türck (Hrsg.): Autorität und Akzeptanz. Das Reich im Europa des 13. Jahrhunderts. Ostfildern 2013, S. 27–41.
  20. Stefan Weinfurter: Das Reich im Mittelalter. Kleine deutsche Geschichte von 500 bis 1500. München 2008, S. 99 f.

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