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Rechtsstaat (Schweiz)

Die Rechtsstaatlichkeit ist ein Strukturprinzip der Schweizer Staatsordnung. Wenngleich eine abschliessende Definition des Rechtsstaates nicht möglich ist, lassen sich Teilgehalte bestimmen. Zu den Kernelementen der Rechtsstaatlichkeit gehört, dass die Ausübung der Staatsgewalt an das Recht (Legalitätsprinzip) gebunden ist, ihr Handeln vor unabhängigen Gerichten angefochten werden kann, die Staatsmacht auf verschiedene Organe verteilt ist (Gewaltenteilung) und Grundrechte existieren, die fundamentale Ausprägungen des menschlichen Daseins schützen und deswegen eines besonderen Schutzes bedürfen. Anhand dieses Massstabs ist die Rechtsstaatlichkeit umfassend verwirklicht. Die Schweiz kennt indes keine Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Akten des Bundesparlaments und der -regierung – ein in vielen anderen Staaten konstitutives Element des Rechtsstaats. Das lässt sich auf das schweizerische Verständnis von Gewaltenteilung zurückführen, das nicht die gegenseitige Hemmung der Staatsorgane (Checks and Balances), sondern die personelle und organisatorische Trennung betont und dabei von einer Überordnung des Parlaments ausgeht. Bei den Grundrechten vermochte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Lücke im Rechtsschutz zumindest teilweise zu schliessen. Darüber hinaus verfügt das Volk über direktdemokratische Mitwirkungsrechte (fakultatives Referendum, Volksinitiative), mit denen es Einfluss auf die Rechtsetzung nehmen kann. Trotz dieser Unterschiede deckt sich die schweizerische Vorstellung des Rechtsstaats mit jener der meisten Staaten Westeuropas.

Die niedergeschriebenen Grundrechte bleiben wirkungslos, wenn ihre Verletzung nicht angefochten werden kann. Für den Rechtsschutz ist jedoch nicht nur relevant, ob ausreichend Rechtsmittel ergriffen werden können; die Ausgestaltung der Verfahren ist für die Korrektheit des Ergebnisses und die Akzeptanz (Legitimität) der Rechtsunterworfenen von grösster Bedeutung. Deswegen werden in der Schweizer Bundesverfassung Verfahrensrechte verbrieft, die Grundrechtsrang besitzen.

Das eine Hauptanliegen des Rechtsstaats ist die Verhinderung von Willkürherrschaft, was durch Bindung an das Recht, Gewaltenteilung, gerichtlichen Rechtsschutz und Verfahrensgarantien in der Schweiz erreicht wird. Der Rechtsstaat leitet seine Daseinsberechtigung aber auch aus dem Schutz individueller Rechte ab. Die Schweizer Bundesverfassung enthält deswegen einen Katalog von Grundrechten, die für alle Rechtsanwender unmittelbar verbindlich sind und auf die sich der Einzelne direkt berufen kann. Die Grundrechte schützen in erster Linie Ausformungen der menschlichen Existenz, die der Staat nur unter eng definierten Voraussetzungen (Art. 36 BV) einschränken darf. In schwächerem Ausmass enthalten sie Verpflichtungen für den Staat, aktiv zur Verwirklichung der menschlichen Freiheit und Unversehrtheit beizutragen.

Die Rechtsstaatlichkeit hatte in der Schweiz lange Zeit eine untergeordnete Bedeutung. In der Alten Eidgenossenschaft war das Staatswesen, sofern man überhaupt von einem Staat sprechen möchte, sehr dezentralisiert und die Unterschiede zwischen den Kantonen entsprechend gross. Grundrechte existierten kaum, genauso wenig wie Rechtsschutz gegenüber staatlichen Akten. Diese Defizite wurden bis Ende des 19. Jahrhunderts nur sehr langsam abgebaut. Eine Ausnahme bildete die fünf Jahre andauernde Helvetik (1798–1803), als die Schweiz ein französischer Vasallenstaat war. Die helvetische Regierung stärkte die Grundrechte und die Gerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen. Gegen staatliche Eingriffe in die persönliche Freiheit konnte weiterhin nicht vorgegangen werden. Auch die Bundesverfassung von 1848 legte das Augenmerk auf Errichtung eines einheitlichen, konkurrenzfähigen Wirtschaftsraums. Ein wichtiger Schritt hin zur Rechtsstaatlichkeit war die Stärkung des Bundesgerichts 1874, das während der nächsten hundert Jahre die verfassungsrechtlichen Lücken durch eine schöpferische Rechtsprechung füllte. Dank der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) führte die Schweiz eine Rechtsweggarantie ein, die später noch ausgebaut wurde (Art. 29a BV). Ein gewichtiger Mangel des Rechtsstaats blieb aber dennoch bestehen: Die politischen Kräfte in der Schweiz sträubten sich gegen die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit (gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsakten) bis Ende des 20. Jahrhunderts.


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